Zum Stand der Korruptionsforschung: Tatsächlich ist dies ein interessanter Zeitpunkt darüber zu sprechen, weil momentan sehr viel und  kritisch über bestehende Forschungsansätze diskutiert wird, was daran liegt, dass zwar in den letzten 20 Jahren das Volumen des wissenschaftlichen Outputs zu dem Thema exponentiell gestiegen ist, viele Ansätze zur Korruptionsbekämpfung allerdings wenig dokumentierte Früchte getragen und wir immer noch nicht „DIE Formel zur Korruptionsbekämpfung“ gefunden haben.

Aber erstmal einen Schritt zurück: Korruption im Sinne von Missbrauch eines anvertrauten Amtes, für eigene Zwecke zu nutzen, gibt es schon seit Menschengedenken und seitdem Menschen besondere Verantwortungen anvertraut werden. Seitdem gibt es auch schon Versuche, dagegen anzugehen. Relativ neu ist das Thema Korruptionsbekämpfung in der Entwicklungszusammenarbeit, und zwar seit dem Ende des Kalten Krieges.

Seit Anfang/Mitte der 90er Jahre ist Korruption kein Tabuthema mehr, und das haben wir vor allem Transparency International und dem Corruption Perceptions Index und anderen weltweiten Meinungs- und Erfahrungsindizes zu verdanken; sie haben das Thema auf die Agenda der internationalen Politik gebracht. Für die Messung von Fortschritten in der Korruptionsbekämpfung sind diese Indizes allerdings eher ungeeignet, denn dazu ist die Begrifflichkeit zu ungenau und sektorunspezifisch. Zumal sich die Methodik nicht zum Vergleich über  einen langfristigen Zeitraum eignet, was auf gewisse Weise auch für die Frustration verantwortlich ist, die sich nach den ersten zehn Jahren intensivierter Entwicklungszusammenarbeit zu diesem Thema verbreitet hat: Die Skandinavier/innen und Neuseeländer/innen führen immer noch die Indizes an, der Süden und Osten tummelt sich auf den unteren Rängen und die Konfliktstaaten ganz unten.  Hier und da gibt es kleine Verbesserungen, aber im Großen und Ganzen scheint sich eher wenig getan zu haben. Das ist im Großen und Ganzen.

Tatsächlich kennen wir wahrscheinlich alle Initiativen, besonders auf lokaler Ebene, die zumindest für eine gewisse Zeit durch mehr Transparenz und Beteiligung der Bevölkerung und Nutzergruppen zur verbesserten Bereitstellung von Dienstleistungen geführt haben. Wir finden dies in  Projektfortschrittsberichten und Evaluierungen wieder und hier und da in wissenschaftlichen Fallstudien. Die Replizierbarkeit in anderen Kontexten erweist sich aber oft als schwierig. Und das ist genau das, was Wissenschaftler/innen momentan vermehrt diskutieren: Was funktioniert in welchem Kontext und was konstituiert diese Kontexte überhaupt?

Paul Heywood, Professor an der University of Nottingham, hat eine sehr hilfreiche Übersicht über die momentane Diskussion darüber, was wir für die Korruptionsforschung brauchen, veröffentlicht. Seine Arbeit hat den herausfordernden Titel Rethinking corruption: hocus-pocus, locus and focus.

  • Hocus-pocus bezieht sich darauf, dass wir eben nicht die eine Zauberformel haben. Konzepte um Korruption zu erklären (und im nächsten Schritt zu bekämpfen), wie Principal-Agent Theory und Robert Klitgaards Formel:
Korruption = Monopolstellung + Diskretion - Rechenschaftslegung

haben vor allem die Ansätze der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und anderer internationaler Organisationen beeinflusst. Das Problem in der Praxis ist aber, dass es nicht nur die Agents sind, die korrupt handeln, sondern auch die Principals und  sogar neu  eingesetzte Aufsichtsinstitutionen, wenn diese nicht gut genug von bestehenden Praktiken isoliert werden. 

Andere Wissenschaftler haben es als ein Collective Action Problem formuliert, in dem man so lange korrupt handelt, wie andere korrupt handeln. Viel Papier wurde auch für verschiedene Konzeptualisierungen und Typologisierungen von Korruption beschrieben, ohne dass daraus jedoch wirklich praxisrelevante Handlungsempfehlungen abgeleitet werden können, denn oft steht noch der Nationalstaat im Vordergrund und der zunehmend globale Charakter von Korruptions-Netzwerken und informelle Patronagesysteme auf lokaler Ebene werden vernachlässigt. Heywood propagiert deshalb eine Justierung des Lokus und Fokus in der Forschung:

  • Lokus: Indizes haben zum Verstehen von Korruption als einem globalen Problem geführt. Tatsächlich wird noch sehr wenig geforscht zu Themen wie Globalisierung von Korruption, illegale Finanzströme, transnationale Netzwerke und  wie diese die nationale Politik und Wirtschaft beeinflussen. Wir brauchen mehr Studien dazu. Andere, wie z.B. Professor Mustaq Khan an der School of Oriental and African Studies in London, sehen den Lokus vor allem auf subnationaler Ebene.
  • Fokus: Sektorspezifische Analysen: Welche Arten von Korruption herrschen vor, wie ist sie organisiert und wer ist involviert, wer duldet sie und welche Interdependenzen gibt es mit anderen Sektoren und dem sozialen Umfeld?
Wir brauchen wir theoriegeleitete,  empirische und systematisch-vergleichende Forschung über Fachdisziplinen hinweg.

Der Trend dazu hat schon vor ca.  15 Jahren begonnen:

  • In den USA: Das J-PAL (Abdul Lateef Jameel Poverty Action Lab) am MIT seit 2003 (über 80 Feldexperimente) und Innovations for Successful Societies an der Princeton University mit zugänglichen Fallstudien.
  • Das U4 Anti-Corruption Resource Centre ist eine Initiative der Utstein-Gruppe (der vier Entwicklungsministerinnen von Deutschland, Norwegen, Großbritannien und den Niederlanden) und wurde 2002 am Michelsen Institute in Bergen gegründet. Zum derzeitigen Zeitpunkt haben wir acht bilaterale Partner für die angewandte Forschung zum Thema Korruption in der Entwicklungszusammenarbeit, um wirksame Maßnahmen zu sichten, durchzuführen und daraus soweit möglich praktische Handlungsanweisungen zu entwickeln. Durch Trainings und Workshops treten wir in direkten Austausch mit den Mitarbeitern unserer Partner und zum Teil auch mit deren zivilgesellschaftlichen und staatlichen Partnern. In Zusammenarbeit mit TI bieten wir auch einen Helpdesk für dringende Fragen an. Zurzeit arbeiten wir in Absprache mit unseren Partnern vor allem an folgenden Themen: generelle Korruption in der Entwicklungszusammenarbeit und Koordinierung von Geberländern; natürliche Ressourcen und Korruption, Privatsektor, internationale Finanzströme, Sektoren (besonders: Erziehung, Gesundheit und Justiz) und ganz neu auch zu informellen Institutionen und Netzwerken sowie Migration und Korruption.
  • EU Antikorrp (Anticorruption Policies Revisited: Global Trends and European Responses to the Challenge of Corruption) ist ein großes Forschungsprojekt, das durch das 7. Rahmenprogramm der Europäischen Kommission finanziert wird. Die erste Phase von Anfang 2012 bis 2017 ist gerade beendet. Das Hauptziel ist die Erforschung von Faktoren, die wirksame Korruptionsbekämpfungsmaßnahmen fördern oder behindern. Das Projekt  besteht aus 25 Forschungsteams in 15 EU-Mitgliedstaaten.
  • Die British Academy und das britische Department for International Development (DFID) haben 2015 für 3,6 Millionen Pfund die Anti-Corruption Evidence (ACE) Initiative begonnen, mit der sie acht führende internationale Forschungsteams bei der Erforschung von erfolgreichen Ansätzen der Korruptionsbekämpfung in Entwicklungsländern unterstützen.

DFID hatte bereits 2014 das Overseas Development Institute (ODI) und U4 beauftragt, eine Meta-Studie  zur Korruptionsforschung zu erarbeiten. Die Studie Why corruption matters: understanding causes, effects and how to address them hat systematisch die Literatur zu den Ursachen und Konsequenzen von Korruption und die Effektivität von bestimmten Antikorruptionsmaßnahmen erhoben (d.h. nicht nur Maßnahmen von Gebern, sondern auch Initiativen von Regierungen und der Zivilgesellschaft allein). Das Vorhandensein von Quellen (Volumen und methodologische Qualität) zu bestimmten Instrumenten wurde ins Verhältnis zur Wirksamkeit dieser Instrumente gebracht. Zum Beispiel gibt es viele Untersuchungen dazu, ob die Dezentralisierung Korruption mindern kann, aber die Ergebnisse sind uneindeutig bzw. widersprüchlich.

Im Folgenden nenne ich exemplarisch fünf Punkte, für die wir eine relativ fundierte und konsistente Beweislage haben:

  1. „Korruption ist schlecht“: Sie hat einen negativen Einfluss auf bestehende Ungleichheiten und auf fundamentale Dienstleistungen, inländische Investitionen und Steuereinkommen und die Umwelt; hingegen gibt es  keinen Nachweis für negative Wirkung auf makroökonomisches Wachstum.
  2. Public Financial Management (PFM), d.h. Reformen der öffentlichen Finanzen, reduziert Korruption. Die Beweislage ist insbesondere für Public Expenditure Tracking Maßnahmen gut, vor allem wenn die Zivilbevölkerung miteinbezogen wird.
  3. Zum Thema Einbeziehung der Zivilgesellschaft, insbesondere community monitoring, Transparenz und Informationsfreiheit (access to information), gibt es relativ viele Studien, allerdings sind die meist auf die Verbesserung von Dienstleistungen und nicht der Reduzierung von Korruption ausgelegt. Hier gibt es durchaus einige positive Erfahrungen, insbesondere wenn dies in Zusammenarbeit mit ‚responsive‘ Regierungsinstitutionen einhergeht.
  4. Gesetze zur Transparenz und Informationsfreiheit allein reichen nicht; aber Transparenz und eine freie Presse können sich positiv auf andere Maßnahmen auswirken.
Antikorruptionsmaßnahmen sind dann am wirksamsten, wenn sie von anderen Faktoren/Maßnahmen unterstützt werden und in einem Reformpaket integriert sind.

Nun werden Sie vielleicht denken: Das wusste ich auch schon, aber wie genau sieht diese Rezeptur für ein funktionierendes Reformpaket aus? Und wenn es das EINE Rezept nicht gibt, wie koche ich mir selbst was zusammen?

Um diese Analogie ein bisschen kulinarisch auszumalen: Ich selbst benutze gerne die App chefkoch.de. Dort kann ich bestimmte Zutaten eingeben, die sich am Ende der Woche noch in meinem Kühlschrank befinden und dann bekomme ich eine Liste mit Rezepten, in denen diese Zutaten verwendet werden. Die Rezepte werden von anderen eingestellt und auch bewertet, Fotos geteilt und in der Kommentierung alternative Vorschläge gemacht. In der Korruptionsbekämpfung brauchen wir einen solchen Erfahrungsaustausch und entsprechende Dokumentierungen innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit, aber auch im Austausch mit der Wissenschaft. Erlauben Sie der Wissenschaft, Ihnen beim Kochen über die Schulter zu gucken, ja vielleicht sogar zusammen mit Ihnen zu experimentieren.  Bei U4 planen wir in den nächsten Jahren zusammen mit unseren Partnern, Feldexperimente in ausgewählten Projekten durchzuführen. Wir sehen ein Bedarf an iterativen, problembasierten Ansätzen, die von Anfang an experimentell ausgerichtet sind mit spezieller Ausrichtung auf das Lernen.

Das heißt, dass ein Misslingen erlaubt sein muss und die „feedback loops“ enger geknüpft werden sollten als in der herkömmlichen Projektfortschrittserfassung.

Die technische Zusammenarbeit eignet sich besonders dafür, weil sie so nah an den Prozessen dran ist. Investieren Sie in Datensammlung zusammen mit Ihren Partnern, in die Entwicklung von Indikatoren (nicht den CPI, oder zumindest nicht nur!!!) und dokumentieren Sie, was funktioniert und was nicht, und unter welchen Bedingungen.  Nehmen Sie sich die Zeit, Erfahrungen auszutauschen, mit Kolleg/innen in der EZ, aber auch mit internationalen Kolleg/innen, Partner/innen und Wissenschaftler/innen.

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Dieser Beitrag basiert auf einem kurzen Vortrag 20.3.2017 auf dem WZ-Referenten-Treffen des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) zum Thema “Korruption verringern: Die Potentiale von Transparenz und neuen Formen der Beteiligung” in Berlin gehalten habe. Das heißt, bei denen mit „Sie“ Angesprochenen handelt es sich um Mitarbeitern von Organisation der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.